Als ich ein Tintenherz besaß

Yesterday – Kommunikation von gestern (Folge 10)

Foto: Martin Gehr

Es war einmal ein Gummiball, mit dem zwei Kinder spielten.

In der Grundschule gab es im Deutschunterricht drei Textgattungen, denen sich die Schüler widmen durften (oder mussten, je nach Motivation): Diktat, Nacherzählung und Aufsatz.

Diktate waren sehr sachliche Angelegenheiten. Die Lehrer prüften, ob man Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschte und ein ordentliches Schriftbild aufweisen konnte. Damals schrieb man Texte noch mit der Hand und zwar mit dem Standardgerät aller Schüler, ohne das man in jedem Unterricht (außer beim Sport) aufgeschmissen war: dem Füllfederhalter, kurz Füller genannt.

Der Füller war nicht nur ein Schreibutensil, sondern auch Ausdruck der Persönlichkeit, denn man hatte die Wahl zwischen den Marken „Pelikan“ und „Lamy“. Beide waren nicht kompatibel, sondern besaßen eigene Tintenpatronen. So gehörte man entweder der einen oder der anderen Fraktion an, was auch für die Schultornister galt: Waren Sie „Scout“ (klassisch-konservativ) oder „McNeill“ (dynamisch-frech)? Fanta oder Cola? Microsoft oder Apple? :-)

Egal, mit welchem Füllfederhalter man seine Worte ins Papier ritzte – wenn man gern schmierte oder der Tintenkiller zum besten Freund wurde, stand am Ende eines Textes unter der Rubrik „Ordnung“ eine Note namens „ausreichend“. Vor allem dann, wenn man den Korrekturrand des Heftes mitbenutzte oder statt Buchstaben lieber Blümchen und Mäuse zeichnete.

Mit Diktaten hatte ich keine Probleme. Viel lieber schrieb ich jedoch Aufsätze, in denen ich meiner Fantasie freien Lauf lassen konnte. Sie waren die ersten Übungen, um Geschichten zu erzählen. Man konnte Bilder in Worte fassen, Handlungsstränge bilden oder einfach drauflos schreiben. So entstanden im Aufsatzheft der vierten Klasse einige Kurzgeschichten, die sich auf dem linierten Papier Zeile für Zeile entwickelten: „Ein Gummiball geht auf die Reise“, „Der übermütige Bäckerlehrling“ oder ein Aufsatz über die Klassenfahrt nach Bergneustadt.

Wenn man sie rückblickend betrachtet, zeigen diese ersten Versuche eine kindliche Sichtweise, die oft viel stärker vom Wesentlichen geprägt war als es heute der Fall ist – und dabei bewies, dass es nicht viel bedarf, um glückliche Momente zu schaffen.